Vom Schüler zum ToDai

Über Leidenschaft, Motivation und den Grund für die Familien-Hierarchie im WingTsun

Leidenschaft ist etwas Positives.
Viele Dinge bekommen erst mit Leidenschaft die passende Würze und machen erst richtig Spaß, z.B. das WingTsun. Andere Dinge sind ohne Leidenschaft sogar unmöglich. Beispiel gefällig? Denken wir mal an Leidenschaft im romantischen Sinne: Stellt euch ein Pärchen vor, bei dem ein Partner den anderen an jede romantische Geste erinnern und für jede Form der Zuneigung motivieren müsste. Al Bundy lässt grüßen! Wir sind uns hoffentlich einig: Mit Leidenschaft hat das nichts zu tun. Und wie ist es im WingTsun? Hier kommt es auf die eigenen Ziele an. Wer zu uns kommt um Selbstverteidigung zu lernen, der muss nicht gleich von Anfang an für die Sache brennen – Neugier und die Bereitschaft sich auf etwas Neues einzulassen reichen für den Anfang vollkommen aus. Wer von den Anfängen aber schon begeistert ist, für den haben wir eine gute Nachricht: Es wird immer besser! Doch um diese Erfahrung wirklich erleben zu können, braucht man etwas Leidenschaft für die Sache. Doch was macht Leidenschaft aus? Leidenschaft hat in erster Linie etwas damit zu tun, woher meine Motivation kommt: Leidenschaft bedeutet für mich, dass es sich um eine innere Motivation handelt. Ich mache etwas für mich und weil ich es will. Ich mache es nicht, weil jemand es mir sagt oder weil es eine gesellschaftliche Erwartung an mich gibt. Für seine Leidenschaft muss man sich nicht erklären oder rechtfertigen – und aus Erfahrung gesprochen: das funktioniert auch nur in den seltensten Fällen. Aber wenn du es doch wirklich für dich machst, ist es dann nicht egal ob andere deinen Weg verstehen?

Verschiebe deine Grenzen!
Kung-Fu bedeutet wörtlich übersetzt „harte Arbeit“. Derjenige, der dich besser macht, ist nicht dein Trainer, sondern in erster Linie du selbst. Der Trainer (oder Sifu) zeigt dir gerne den Weg – wenn du aber nicht die passende Einstellung hast, wirst du nur an der Oberfläche kratzen. Sowie das Beste an einem Buch nicht der Klappentext ist, so stellen auch die ersten Schülergrade im WingTsun nicht den Höhepunkt dar. Willst du mehr als das, musst du bereit sein öfter und härter zu trainieren. Sei bereit weiterzumachen, auch wenn die Muskeln brennen und der Kopf qualmt. Wo andere mit sich selbst zufrieden sind, fängt für dich der Weg an. Das klingt etwas unbequem, oder? Macht aber nichts – glaub mir, das ist es wert!

Sei geduldig!
Wer enthusiastisch trainiert, der strebt nach Perfektion. Wenn diese dann nicht kurzfristig erreicht wird, halten sich manche für untalentiert oder schlicht für zu dumm. Ihre eigene Erwartung steht ihnen im Weg, sie werden demotiviert, verlieren den Spaß und hören letztendlich auf zu trainieren. Lass dir Zeit! Euer Lehrer hilft euch euren Fortschritt einzuschätzen. Genieße das Training, nicht nur das Erreichen von Zielen und Meilensteinen. Wenn du mit der richtigen Einstellung hart arbeitest, wirst du deine Ziele erreichen – die Zeit arbeitet für dich!

Vom Schüler zum ToDai
In den Kung-Fu-Filmen der 1980er und 1990er Jahre wurde mehr als einmal gezeigt, wie Schüler vor einem Kloster knieten und darauf warteten aufgenommen zu werden. Nächtelang, in Kälte und Wind, haben sie darauf gewartet eingelassen zu werden. Warum war das so? Es handelt sich hierbei um eine Art Charaktertest, in dem geprüft werden sollte, ob der Anwärter die richtige Einstellung hatte und es wert war als Schüler aufgenommen zu werden. Hat der Schüler bewiesen, dass er bereit ist „bitter zu essen“ (Chin. Redewendung), wurde er mit einer Zeremonie als ToDai (Kung-Fu Schüler) aufgenommen. Ab diesem Moment war er Teil der Kung-Fu Familie. Er hatte einen Sifu (väterlicher Lehrer) und Kung-Fu Brüder und Schwestern. Auch wenn heute weder Charakterprüfungen noch Zeremonien durchgeführt werden, sind die Bezeichnungen geblieben und ein fester Bestandteil unserer Tradition. Auch wenn es in dem Familiensystem eine klare Hierarchie gibt, geht es hier viel mehr um die Gemeinsamkeit als um die hierarchischen Unterschiede: Es sagt aus, dass jeder in der Familie dieselbe Einstellung und Wertschätzung für die Sache mitbringt. Wenn mein Sifu mich als seinen ToDai bezeichnet, setzt er mich nicht herab, sondern drückt eine Form von Anerkennung aus.

Mit Ausnahme vom Sifu-Titel sprechen wir uns im Training nicht mit den Familienbezeichnungen an, aber als jemand der WingTsun macht, sollte man sie kennen!

Hier erfährst du mehr zu den Bezeichnungen.

Sifu Lukas Vahle