Über den Sifu-Titel im WingTsun gibt es viele Gerüchte und mindestens genau so viele Missverständnisse. Vielen scheint gar nicht klar zu sein, warum es diesen Titel gibt und was er aussagen soll: Manche halten ihn für ein Relikt aus alten Tagen, andere vermuten dahinter eine technische Graduierung. Wieder andere denken, dass man nur eine Schule eröffnen oder einfach nur Unterricht anbieten muss, um diesen Titel legitim führen zu dürfen. Letzteres ist zwar nicht ganz falsch, aber auch noch lange nicht richtig!
Das Wort „Sifu“ stammt ganz offensichtlich aus dem Chinesischen. Jeder der sich schon einmal mit der Sprache auseinandergesetzt hat, wird drei Tatsachen schnell festgestellt haben:
- Es gibt mehrere chinesische Sprachen.
[z.B. Mandarin (= Hochchinesisch), Kantonesisch, etc.] - Silben ändern ihre Bedeutung je nach Aussprache.
Zum Beispiel kann die Silbe „Ma“ in Abhängigkeit der Aussprache „Schimpfen“, „Mutter“, „Hanf“ oder „Pferd“ bedeuten. - Einige Silben sind doppelt belegt, sodass sich die Bedeutung nur aus dem Kontext erschließen lässt.
Die Silbe „Wu“ kann z.B. Affe, aber auch Fuchs [„Wu(-Suen)“] bedeuten.
Genug der Linguistik-Nachhilfe: Was kann der Ausdruck „Sifu“ bedeuten? Geläufig sind zwei verschiedene Schreibweisen:
- Si-Fu (師父)
Das „Si“ (師) bedeutet in etwa „Lehrer“, die Silbe „Fu“ (父) steht für „Vater“. Frei übersetzt kann diese Schreibweise als „Väterlicher Lehrer“ oder „KungFu Lehrer“ interpretiert werden. - Sifu (師傅)
Das „Si“ (師) kann nach wie vor mit „Lehrer“ übersetzt werden, jedoch lässt der Kontext auch eine Interpretation als „Experte seines Fachs“ zu. Die Silbe „Fu“ (傅) bedeutet „beistehen“ oder „fördern“. Ein Sifu ist demnach eine Person, die vor allem charakterlich dazu in der Lage ist, jemanden auf seinem Weg zu begleiten und in dem vollen Umfang der Kampfkunst zu unterweisen. Es ist weit mehr als nur ein Trainer, der Techniken vermittelt. Es geht um die innere Haltung, die Philosophie und um die Werte der Kampfkunst. Die Schreibweise „Sifu“ (師傅) wird als Titel geführt. Diesen Titel kann man sich nicht selber geben, man wird dazu ernannt. Die Ernennung ist bei uns an Bedingungen geknüpft.
Ein weiteres Gerücht lautet, dass es den Sifu-Titel in China gar nicht gäbe und dass der Sifu-Titel eine Erfindung der Europäer sei. Das stimmt nicht! Der Titel ist auch in China weit verbreitet und geschichtlich verankert. In den alten feudalistischen Strukturen Chinas war es üblich, dass ein Thronfolger die Macht des Vaters bedingungslos erbte. So ging teilweise auch ein Führungsanspruch an Kinder über, die noch gar nicht in der Lage waren ihre Verantwortung wahrzunehmen. Dies hatte teilweise existenzielle Folgen! Aus diesem Grund wurde schon früher eine Ernennung unter strengen Voraussetzungen notwendig, sodass sich die Thronfolger erst beweisen mussten, bis sie für den Machtanspruch würdig befunden wurden und ihr Erbe antreten konnten.
Auch die Geheimgesellschaften zur Zeit der Boxeraufstände hatten einen Sifu (師傅), der weit mehr als nur ein Trainer für KungFu Techniken war.
Wer hört den Unterschied? Niemand. Aber die Frage erübrigt sich ohnehin aus zwei Gründen:
- Der erste Grund ist ein grammatikalischer. Ich kann jemandes Si-Fu (師父) oder jemandes Si-Hing (師兄; chin. für „älterer KungFu-Bruder“) sein. Hiermit wird mein individuelles Verhältnis zu einer anderen Person deutlich. Würde ich diese Bezeichnung jedoch als Titel vor (oder hinter) meinen Namen führen, würde ich damit behaupten dass ich jedermanns Si-Fu oder Si-Hing bin. Das funktioniert im Chinesischen genau so wenig wie in jeder anderen Sprache.
- Stellt euch einmal vor ein Arzt ohne Promotion würde darauf bestehen, sich mit „Herr Doktor“ ansprechen zu lassen. Jeder würde ihn für einen Blender halten, der versucht sich einen Titel zu erschleichen. Nur weil viele den Ausdruck „Doktor“ mit „Arzt“ gleichsetzen, heißt es nicht, dass ein solches Verhalten legitim ist. Schließlich sollte derjenige selber am besten wissen, dass er hiermit den Doktortitel andeutet, den er selber offenbar gar nicht hat. Genau so verhält es sich mit Sifu und Si-Fu. Wenn es etwas in China nicht gibt, dann dass jemand Si-Fu (師父) als Titel führt.
In unserer Akademie haben wir eine einfache Handhabung. Lehrer, die einen Sifu-Titel haben, sprechen wir mit „Sifu“ an. Wenn zwei Sifus anwesend sind, fügen wir den Vornamen hinzu. Hat mein Lehrer keinen Sifu-Titel, so reicht schlicht und einfach der Vorname.
Der Sifu-Titel sagt nichts über das technische Können oder die Kampfkraft aus, dafür haben wir Schüler-, Lehrer- und Meistergrade. Gleichwohl muss ein Sifu zahlreiche Voraussetzungen erfüllen, bevor er zu einem Sifu ernannt werden kann (bei uns min. den 2. Lehrergrad, eigene Schüler, die er bis zu ihrem 1. Lehrergrad begleitet hat, u.v.m.). Den Titel zu bekommen ist eine große Ehre für einen WingTsun-Lehrer. Diesem Titel immer und immer wieder gerecht zu werden, ist eine Aufgabe für sein ganzes Leben.
Lukas Vahle
Quellen / Literaturhinweise:
– „Roots & Branches of Wing Tsun“, Leung Ting (ISBN: 962-7284-23-8)
– „Weisser Lotus, Rote Bärte – Geheimgesellschaften in China“, Jean Chesneaux (ISBN: 3 8031 2015 2)
– https://de.wikipedia.org/wiki/T%C3%B6ne_des_Hochchinesischen