Der Weg des Meisters

Sifu Cosimo My an der Holzpuppe

George Leonard beschreibt in seinem, leider längst ausverkauften, Buch „Der längere Atem“ die Fähigkeiten, die es braucht, um eine Sache wirklich zu meistern. Es geht um Motivation, um Lernkurven und um Plateaus. Das Wissen ist für jeden WingTsun-Schüler, der sich auf den Weg des Meisters begibt, essenziell. Manche meiner Schüler behaupten, sie hätten schon längst das Handtuch geschmissen, wenn sie das Buch am Anfang ihrer WingTsun-Ausbildung nicht entdeckt hätten. Da es inzwischen leider nur in der englischen Originalfassung zur Verfügung steht und auch ich persönlich einen starken Bezug zu diesem Buch habe, möchte ich euch gerne einen zusammengefassten Einblick bieten.

Doch vorab: Was bedeutet eigentlich Meisterschaft? Im Ursprung bedeutet es weder einen Zweck noch ein Ziel, sondern viel mehr einen Weg auf den sich jeder machen kann, der bereit ist den Preis dafür zu zahlen. In unserer Gesellschaft, in der wir uns immer mehr auf einen schnellen Nutzen fixieren, kennen und schätzen wir den Weg des Meisters immer seltener. Schlimmer noch, wir haben sogar ein bisschen verlernt, wie man diesen Weg beschreitet. Dieser Weg ist fast immer sehr weit und oftmals schwierig, denn er verläuft nicht in gerader Linie.

Lernen lässt sich leider nicht mit einer Treppe versinnbildlichen, bei der man mit jeder Trainingsstunde automatisch weiter nach oben kommt. Es braucht oft Zeit bis die Bemühungen Früchte tragen und sich endlich zeigt woran man lange gearbeitet hat. Diesen Zeitraum zwischen den Lernsprüngen bezeichnet man als Plateau. Besonders wenn die erste Begeisterung verflogen ist, weicht man gerne vom Weg ab und verfällt in persönlichkeitstypische Verhaltensweisen. George Leonard teilt diese in drei verschiedene Typen ein.

Der Dilettant
Dilettanten gehen mit einer enormen Begeisterung an jede neue Sportart, Karriere oder Beziehung heran. Sie lieben die Rituale des Beginnens, die tolle Ausrüstung, den Fachjargon, den Glanz des Neuen. Sobald aber die ersten Ziele erreicht sind und das erste Plateau herannaht, flaut die Begeisterung schnell ab. Es beginnt damit, dass die ersten Trainingseinheiten ausgesetzt werden. Ihr Verstand denkt sich immer neue rationale Gründe aus warum es doch nicht geklappt hat: Zu modern, zu traditionell, zu gefährlich oder zu langweilig.

Der Fanatiker
Fanatiker sind gründliche Menschen. Für sie zählen Resultate und nicht der Weg dahin. Mit dem Zweitbesten wird sich der Fanatiker nicht zufriedengeben. Bereits in der ersten Unterrichtsstunde wollen sie alles richtig machen und reden nach dem Training mit dem Lehrer. Sie fragen nach Büchern, Videos und anderen Möglichkeiten, um schneller voran zu kommen. Der erste Sprung im Lernprozess kommt wie erwartet recht früh. Irgendwann, wenn man im Lernprozess etwas zurückfällt und sich auf einem Plateau wiederfindet, hat der Fanatiker es besonders schwer. Er ist von sich selbst enttäuscht. Er verdoppelt die Trainingseinheiten und hat eine hohe Opferbereitschaft, wenn es darum geht, sein Ziel zu erreichen. Seine Lernkurve startet sehr steil, wird dann zu einer Zickzack-Linie und stürzt letztendlich ab.

Der Phlegmatiker
Phlegmatiker haben eine sehr gelassene Einstellung. Sie geben sich auch mit kleineren Erfolgen zufrieden und sind nicht unbedingt auf das Weiterkommen fokussiert. Sie stört es nicht, wenn andere an ihnen vorbeiziehen. Sie mögen die Gesellschaft von anderen Phlegmatikern und sind dafür bereit wichtige Dinge schleifen zu lassen. Sie leben ständig in ihrer Komfortzone und fühlen sich belästigt, wenn man sie zu mehr antreiben möchte. Oftmals, wenn sich ihre Trainingspartner weiterentwickelt haben und nicht mehr mit ihnen trainieren können, brechen sie die Zelte ab. Sie ärgern sich, dass die Umstände sich verändert haben, dabei waren sie es, die als einzige stehengeblieben sind.

Lerne das Plateau zu lieben!
Natürlich sind Ereignisse und Möglichkeiten für unser Leben wichtig, aber die meiste Zeit geht es um die Räume dazwischen – der Prozess des Lebens selbst! Durch unseren modernen Lebensstil haben wir uns vielleicht aberzogen die langen Phasen geduldiger Anstrengung zu schätzen zu wissen, sie zu genießen oder sogar zu lieben. Dabei besteht das Leben zum großen Teil aus genau diesen Phasen.
Man darf nicht nur auf das Erreichen des nächsten Schülergrads fixiert sein, sondern man muss lernen, das einfache und alltägliche Üben zu genießen und wertzuschätzen. Man muss sich dem Druck des Erfolges entziehen und einfach Zeit nehmen, um an sich zu arbeiten. Erst dann wird man besser und kann sich ehrgeizig der nächsten Prüfung stellen.

Dieser scheinbare Widerspruch, sich ohne Ziel dem Plateau zu widmen und trotzdem den Ehrgeiz für die nächste Prüfung zu wecken, ist eines von fünf Prinzipien, die George Leonard für den Weg des Meisters empfiehlt. Dieses Paradoxon ist sein fünftes Prinzip: Das Prinzip des Messers Schneide. Die Vorhergehenden sind die Prinzipien
· Der Unterweisung
· Der Übung
· Der Hingabe
· Und der inneren Einstellung

Der Weg des Meisters steht jedem offen!
Auch ich erkenne mich eindeutig in einem der oben genannten Typen wieder. Und auch ich habe Dinge abgebrochen und bin die klassischen Trampelpfade gelaufen, die schon Millionen vor mir gelaufen sind. Und so wie ich mit dem Bewusstsein für die klassischen Fehler diese habe vermeiden können, so könnt auch ihr die Fehler vermeiden, die für euch / euren Persönlichkeitstyp klassisch sind. Unabhängig von eurer Graduierung glauben wir daran, dass ihr, die beim Training vor uns steht, euch bereits auf den Weg des Meisters gemacht habt. Oder was glaubt ihr, warum sich bei uns auch die Lehrer vor den Schülern verbeugen?

Lukas Vahle