Im Dezember des vergangenen Jahres hat Lili Pfeil aus Bad Wildungen ihre Prüfung zum 12. Schülergrad bestanden. Lili war zurecht stolz auf ihre respektable Leistung und stellte ein Photo ihrer Urkunde auf Facebook. Die Worte, die sie dem Bild ergänzte, waren bemerkenswert. Sie waren nicht nur sehr motivierend, sondern ließen auch erahnen, dass Lili mehr über die Philosophie hinter der Kampfkunst verstand, als viele andere. Grund genug für uns, Lili um einen Gastbeitrag für unseren Blog zu bitten.

Ein Weg beginnt

Nach einer heiklen Situation im Büro, die für mich glücklich ausging, saß die Angst in mir fest. Könnte es wieder zu solch einer kommen? Einer Konfrontation mit aggressiven Kunden konnte ich nicht immer aus dem Weg gehen. Was würde ich dann tun? Mich aufs Glück verlassen? Nein, das war zu riskant. Außerdem mischte sich langsam auch noch Wut mit ein- die Wut der Hilflosigkeit wegen meiner körperlichen Schwäche gegenüber den männlichen Vertretern. Einfach ungerecht! Es war also notwendig, etwas zu unternehmen.

Zwei mal am Tag fuhr ich an diesem Werbeplakat vorbei und hatte es seit Wochen nicht geschafft Kontakt aufzunehmen und mich zu erkundigen, ob auch ich in meinem Alter und mit meinen physischen Voraussetzungen WingTsun erlernen könnte. „Ja, da war eine Frau abgebildet und es ging dort um Selbstverteidigung, also genau das, was ich brauchte, aber schaffe ich es wirklich?“- ging mir ständig durch den Kopf.

“Die eigene Stärke unter Beweis zu stellen und die Begrenztheit des eigenen Körpers zu verspüren ist eine außergewöhnlich eindrucksvolle Erfahrung.”

“Der bittere Sieg über sich selbst befreit!”

Also brachte ich meinen ganzen Mut zusammen meldete mich in der WingTsun Akademie My an. Das war eine der besten Entscheidungen meines Lebens! In einer ungezwungenen Atmosphäre lernte ich von meinem Lehrer (Sifu) und seinen Schülern, wie man sich aus einer Notsituation befreit, die eigene Umgebung bewusst wahrnimmt, den richtigen Zeitpunkt für das eigene Handeln bestimmt und aktiv wird. Dabei durfte ich mir selbst treu bleiben und die Werkzeuge wählen, die mir am besten lagen. Es gab auch schmerzhafte Lektionen. Ich sollte begreifen, dass der Wunsch sich vor dem Schmerz zu drücken wie die Hoffnung ist, dass einen andere immer in Ruhe lassen und nie bewusst oder unbewusst verletzten würden. „Was andere machen ist egal – entscheidend ist, was du tust!“ – sagte mir Sifu. Autsch! Das saß! Ich dachte immer, die Bedrohung kommt von außen. Habe ich mich damit von ihr abhängig gemacht und ihr so die größere Macht verliehen? Der Feind saß also in mir?! Den galt es zu bekämpfen! Also lernte ich den Grund und die Kraft in mir selbst zu finden. Gegen sich selbst zu kämpfen ist schwer – dagegen wehrt sich das Ego mit aller Kraft – aber sehr effektiv und gerecht. Es zahlt sich aus, wenn man diszipliniert und konzentriert übt, den vorgegebenen Weg solange geht, bis die Bereitschaft sich selbst zu erkennen und neue Wege zu gehen die eigenen Fesseln zerreißt.

“… sie können nicht verstehen, was sie nicht erfahren haben.”

Irgendwann stellte ich fest, dass  ein sicheres Selbstbewusstsein aus meinem Innern strahlte und sich auf alle Lebensbereiche positiv auswirkte. Angst, Wut oder das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein, dominierten nicht mehr. Stattdessen war Platz geschaffen, um meinen Mitmenschen Verständnis entgegenzubringen und konstruktive Entscheidungen zu treffen. Manchmal kommt es mir wie eine Verwandlung vor. WingTsun brachte mehr als ich mir erhofft hatte. Meine Umwelt reagiert oft mit Skepsis auf meine Schwärmerei für die Kampfkunst WingTsun, denn sie können nicht verstehen, was sie nicht erfahren haben. Ihre Reaktion ist mir nicht mehr so wichtig. Die Philosophie der Kampfkunst WingTsun im Kreis von Gleichgesinnten im Rahmen meiner Möglichkeiten zu erlernen und mir zu erhalten ist zu meinem neuen Traum geworden.

“Der bittere Sieg über sich selbst befreit und wäre ohne Vorbilder, Begleiter und Lehrer nicht möglich. Danke euch allen!”

“Genau das ist es, was ich mir wünsche!” ~Sifu Cosimo

Genau das ist es, was ich mir für unsere Mitglieder und Schüler wünsche: Eine Veränderung der Persönlichkeit im positiven Sinne, die weder mit Technik noch mit Traditionen zu tun hat, sondern mit der Bereitschaft über den eigenen Schatten zu springen um noch mehr zu einer starken Persönlichkeit zu werden.

Diese Erkenntnis über sich selbst, das Bewusstsein über die eigenen Schwächen und Stärken und über die eigene Position in der Umwelt, das ist es, was mit WingTsun und Kampfkunst als Lebensweg gemeint ist. Wer diese philosophischen Aspekte bei der Ausübung einer gefährlichen Kampfkunst berücksichtigt, wird sorgfältig mit den erworbenen Kenntnissen umgehen, weil man die eigenen Fähigkeiten und Grenzen erkennt, und Vor- und Nachteile einer Auseinandersetzung bewusst berücksichtigen kann.

Ich freue mich über diese Entwicklung und den Zusammenhalt in unserer WT-Familie – Lili, ich bin stolz auf dich!

Sifu Cosimo